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Abgehört - neue Musik Radio-Rapper und geniale Girls

Vince Staples trimmt seine Rap-Sozialkritik mit G-Funk auf Radioformat, Superstar-Aspirantin Rosalía elektrifiziert den Flamenco. Außerdem: eine Supergroup aus Indie-Frauen und Neoklassik mit Schrauben.

Vince Staples - "FM!"
(Def Jam/Universal, seit 2. November)

Oha, was ist denn hier los? Hat ein Produzent etwa seinen Job vergurkt und Vince Staples eine zip-Datei mit Beats geschickt, die eigentlich für YG bestimmt waren? "FM!", das vergangenen Freitag ohne Ankündigung erschienene dritte Album des 25-jährigen Rappers, beginnt nämlich mit zwei Dingen, die man bisher nicht unbedingt mit dem Kalifornier verbunden hatte. Erstens so etwas wie Sonnenschein. Und zweitens fast schon traditionelle Gangsta-Posen. Ein seltsam deplatzierter G-Funk-Bass zieht sich durch den Opener "Feels Like Summer", geziert von einer kühlen Synthie-Seebrise und einem zuckrigen Refrain von Ty Dolla $ign. Ist das noch derselbe Staples, der erst vor einem Jahr mit "Big Fish Theory" ein frostiges Meisterwerk progressiven Hip-Hops abgeliefert hatte?

Ist es, keine Sorge: "Summertime in the LB wild/ We gon' party 'til the sun or the guns come out", kontrastiert er den versöhnlichen Sound gleich zu Beginn. Und fügt zehn Sekunden später hinzu: "White fans at the Coachella, hey/ Never been touched, niggas know better, hey". Inhaltlich setzt Staples also weiterhin auf bissigen Sozialrealismus. Der Unterschied: "FM!" verpackt seine Beobachtungen aus dem Alltag der benachteiligten amerikanischen Communities in Musik, die jede Party zum Kochen bringen könnte. Und nicht, wie bisher, zum Kollaps.

Das ergibt Sinn, schließlich betont Staples bei jeder Gelegenheit, Fan von Radiorappern des alten Schlags zu sein: 2Pac, Andre3000, Scarface. Gibt es alles in dieser Form nicht mehr, klar. Mit "FM!" baut er sich deshalb kurzerhand seinen eigenen Sender. Mit Ansagen der L.A.-Radiolegende Big Boy unterfüttert sendet Staples ein strenges Regiment in den digitalen Äther: Auf knappen 23 Minuten geben sich acht veritable Hits buchstäblich die Studio-Klinke in die Hand. Der breitbeinig groovende Banger "Run The Bands" etwa geht fast nahtlos in den mit Säure vergifteten Dancehall der Single "FUN!" über. Nur zwei Minuten später folgt das bärenstarke "No Bleedin'" (feat. Kamaiyah). Dazwischen: Zwei Snippets von neuen Songs von Earl Sweatshirt und Tyga als Verneigung vor Zeiten, als frische Singles noch im Radio Premiere feierten.

"FM!" ist damit eine echte Rarität im gegenwärtigen Hip-Hop-Zeitgeist: ein reduziertes Album, das einen fast atemlos zurücklässt, mit dem Wunsch nach mehr. Dass auch kommerzielle Interessen den Anstoß für diesen Potenzbeweis gegeben haben könnten? Könnte kaum egaler sein. Denn spätestens beim schwermütigen Schlusspunkt "Tweakin'" (feat. Kehlani) wird klar: Viel stichhaltiger als dieser latent depressive Sommertanz kann Hip-Hop in diesem Herbst nicht klingen. (9.0) Dennis Pohl

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boygenius - "boygenius"
(Matador/Beggars, ab 9. November)

In Schubladen gesteckt zu werden, ist im Pop ja immer Fluch und Segen zugleich. Den Labels "Britpop", "Grunge" oder "Emo" verdankten so einige mediokre Bands einen (kurzfristigen) Erfolg. Kommen Geschlechterfragen hinzu, wird es komplizierter mit solchen Zuschreibungen. Der männliche Singer/Songwriter wird gerne als sensibles, enigmatisches Genie dargestellt und gilt als Original, seine weibliche Kollegin hingegen wirft der gemeine Kritiker immer noch gerne in den Topf mit all den anderen Mädchen mit Gitarre.

So erging es in den vergangenen Monaten den US-Musikerinnen Lucy Dacus, Phoebe Bridgers und Julien Baker. Alle drei sind individuelle und stilistisch verschiedene Künstlerinnen, werden sie jedoch zurzeit gerne in einem Atemzug als Vorreiterinnen einer neuen Welle weiblicher Indie-Songwriterinnen genannt. Einfach nur, weil ihre aktuellen Alben binnen kurzer Zeit erschienen. Fluch? Segen? Irgendwas latent Frustrierendes dazwischen.

Was tun? Solidarisieren und aus der Not eine Tugend machen: Dacus, Bridgers und Baker formten eine Art Indie-"Supergroup", was bis auf wenige Ausnahmen (Wild Flag) immer ein Macker-Ding war, und nannten sie boygenius, mokant kleingeschrieben. Eine Niederlage wäre dieser Schritt natürlich, wenn sich die zumeist von Männern gepflegten Vorurteile (Klingt ja eh alles gleich) bestätigen würden, doch die drei girl geniuses finden auf ihrer ersten EP in sechs sehr guten Songs einen gemeinsamen Sound, ohne ihre Persönlichkeiten darin aufzulösen.

"Bite The Hand", mit einem lakonischem Manifest der Widerborstigkeit im Refrain ("I can't love you like you want me to"), trägt die gitarrenstarke Handschrift von Lucy Dacus und wird durch den ergänzenden Harmoniegesang ihrer Kolleginnen zu etwas Eigenem. "Me & My Dog", in dem sich die Protagonistin vor erstickend dominanten Mannsbildern in ein "Spaceship" flüchten möchte, betont die sehnsüchtigen Folk-Melodien von Phoebe Bridgers; "Stay Down", vom sachten Klavier-Klimpern zum Gitarrensturm wachsend, greift die selbstzweifelnden Motive von Julien Bakers "Turn Out The Lights" auf. "I wasn't a fighter 'til somebody told me/ I had better learn to lean into the punch", singt Baker darin. boygenius fangen nicht nur die Schläge auf, sie ballen sechs Fäuste zum Gegenschlag. (7.9) Andreas Borcholte

Kelly Moran - "Ultraviolet"
(Warp/Rough Trade, seit 2. November)

Der Hinweis ist so glasklar, wie diese Platte klingt: "Water Music" heißt eines der sieben Stücke auf Kelly Morans drittem Album, ihrem ersten auf Warp, dem Label von Aphex Twin und Autechre. Der Titel ist programmatisch: "Fluide" soll ihre Musik sein, sagt Moran, und das ist sie. Die Stücke auf "Ultraviolet" sind repetitiv, ziehen Kreise, deuten im Fließen Variationen an - und diffundieren immer wieder in ein Meer aus Sound. Der Wunsch, sie zu kategorisieren, wird beim Hören sehr schnell sehr schwach. Aber wenn es schon ein Begriff sein muss, dann vielleicht dieser: ozeanischer Minimalismus.

Fluidität entsteht bei Kelly Moran nicht mittels dem bei ähnlichen Unternehmungen inzwischen standardisierten Postrock-Pomp, sondern durch sehr spartanische Mittel. Es braucht nur ein Klavier, ein paar simple elektronisch generierte Flächen - und eine Handvoll Schrauben, mit denen Moran ihr Instrument präpariert, um zwei jener Grenzen zu perforieren, anhand derer man sich gerne seine Schubladen zusammenzimmert.

Es ist nicht zu entscheiden, ob es sich bei dieser Musik um Pop oder um Klassik handelt. Schwer zu sagen außerdem, ob elegische Stücke wie "Helix" oder "Nereid" improvisiert oder durchkomponiert sind. Sie wirken jedenfalls wie freigespielt, und dass all das nie in Kitsch und melancholisches Tingeltangel ausartet, wird auch an der klassischen Ausbildung liegen, die Moran mitbringt. Nur wird die spürbare Freudlosigkeit, die mit dem akademischen Gestus häufig einhergeht, hier aufgelöst in einer Herangehensweise, die intuitiv und in vielen Momenten geradezu vitalistisch anmutet.

So traumschön "Ultraviolet" auch klingt, im Gegensatz zu dem oberflächlich gesehen artverwandten Auswüchsen der Neoklassik navigiert diese Musik an jedweder Behäbigkeit vorbei. Konzeptuelle Strenge und das vergleichsweise spröde Klangbild, das entsteht, wo Schrauben die Resonanzen und Obertonstrukturen eines Klaviers verändern, bewahren einen davor, in diesem Wohlklang, der das Fiese und Zermürbende der Welt mit aller Kraft negieren will, dümmer zu werden, als man ist. Das ist nicht wenig. (8.0) Benjamin Moldenhauer

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Rosalía - "El mal querer"
(Epic/Sony Music Spain, seit 2. November)

Vom britischen "Guardian" wurde sie bereits als "Gamechanger" bezeichnet: Die junge spanische Sängerin, Musikerin und Produzentin Rosalía mischt auf ihrem zweiten Album "El mal querer" traditionelle Flamenco-Motive mit aktueller elektronischer Popmusik und futuristischem R&B. Der Zeitpunkt für die 25-jährige Katalanin, sich als Avantgarde einer neuen, lateinamerikanisch geprägten Popkultur zu etablieren, könnte nicht besser gewählt sein: "Despacito", der spanischsprachige Sommerhit von 2017, war ein globales Leuchtfeuer für diesen Trend, den EDM-Produzenten wie Diplo seit Jahren in die westliche Clubmusik importiert haben. Der Kolumbianer J Balvin hatte gerade einen auf Spanisch und Englisch gesungenen Hit mit der New Yorker Rapper Cardi B, "Despacito"-Star Luis Fonsi sang den US-Remix seiner Strandbar-Hymne zusammen mit Justin Bieber.

Rosalía wird von diesem Latin-Fieber profitieren, ihre Musik ist jedoch weit entfernt von den Reggaeton-Rumpshakern, die in den Clubs zurzeit für dauerhaft tropische Vibes sorgen, sie vergräbt sich tiefer, aber nicht weniger propulsiv, in die Schwermut des Genres. Als neuzeitliche Gitana erzählt sie auf "El mal querer" die Romeo-und-Julia-Geschichte einer "verdorbenen Liebe", wie der Titel übersetzt heißt. Im Videoclip zu "Malamente", dem ersten - und gefälligsten - Kapitel des wie ein Roman angelegten Albums, fusioniert sie Gang- und Street Culture mit Stierkampf-Motiven; am Ende des Clips ist es sie selbst, die dem Getto-Matador mit einem bulligen Motorrad in die Parade fährt. "Verdorben" heißt "Malamente" übersetzt, und mit ihrer Parkplatz-Choreographie rückt sie sich durchaus in die Nähe von Michael Jacksons "Bad".

Dass sie US-amerikanischen Pop mit europäischer Musik und nahöstlichem Flair verschmelzen kann, damit also auch zu den maurischen Einflüssen des Flamencos vordringt, beweist sie in "Bagdad", das zu Beginn Justin Timberlakes "Cry Me A River" zitiert, sich dann aber in hochtönenden Chorälen auflöst, die wiederum an den sakralen Experimental-Soul des venezolanischen Künstlers Arca erinnert, der zuletzt mit Björk an deren Album "Vulnicura" arbeitete. Ein weiterer Björk-Kollaborateur, der spanische Afrotrap- und Tropicalia-Spezialist Pablo Díaz-Reixa alias El Guincho, half Rosalía bei der Produktion.

Man muss kein Spanisch können, um die Leidenschaft und Emotionen ihrer Gesänge zu verstehen. Der harmonische Zusammenprall archaischer und hypermoderner Klänge macht die Faszination dieses betörend immersiven Konzept-Albums aus. Am verblüffendsten inszeniert wird das im fatalistischen "De Aqui No Sales", wenn sich Handclaps und Motorengeräusche mit Rosalías flehentlicher Klage und atemlos-polyphonen "Ay, Ay, Ay"-Seufzern mischen.

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Vor kurzem drehte sie mit Pedro Almodóvar einige Szenen für dessen neuen Film, zusammen mit J Balvin führt sie die Nominierungslisten der Latin Grammy Awards an - und am liebsten würde sie mit ihrem Idol Kendrick Lamar zusammenarbeiten. Wann? Nur eine Frage der Zeit. An Rosalía kommt spätestens 2019 keiner mehr vorbei. (8.5) Andreas Borcholte


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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