Die Dummen ans Bett, die Gescheiten ins Büro - demenzjournal.com

Bürokratie und Sedierung

Die Dummen ans Bett, die Gescheiten ins Büro

Kurt Müller Kassensturz Sedierung Rollstuhl

Seit dem Aufenthalt in der Psychiatrie sitzt Kurt Müller im Rollstuhl. Seine Tochter Angela wollte wissen, was passiert ist. Screenshot SRF

Ein Beitrag des Schweizer Fernsehens über die Sedierung eines Heimbewohners hat hohe Wellen geworfen. Der Wunsch nach besserer Pflege und mehr Sicherheit wird alles noch schlimmer machen, schreibt der Ethiker und Demenzexperte Michael Schmieder in seinem Kommentar.

Kurt Müller (76) hat eine Demenz und lebt in einem Pflegeheim. Dort fällt er wegen seiner Unruhe und seines teilweise aggressiven Verhaltens auf. Er wird in die Psychiatrie verlegt, wo er sich auch aggressiv verhält. Er wird massiv sediert und isoliert. In einem stark pflegebedürftigen Zustand kommt er schliesslich zurück ins Heim.

Seit dem Aufenthalt in der Psychiatrie kann er nicht mehr gehen und braucht den Rollstuhl. Seine Tochter Angela Müller ist schockiert und will wissen, was mit ihm geschehen ist. Sie wendet sich unter anderem ans Schweizer Fernsehen SRF. Im am Montag ausgestrahlten Beitrag der Sendung «Kassensturz» kommen neben Müllers Tochter zwei Fachleute und ein Pflegefachmann, der nicht mehr in der Pflege arbeitet, zu Wort.

Der Beitrag löst einen grossen Aufschrei aus. Aber ändern wird dies nichts. Und wenn sich mit den Forderungen nach mehr Qualität und Sicherheit etwas ändert, dann in die falsche Richtung. Was betrachte ich als die falsche Richtung?

Als Entwickler eines stationären Konzeptes der Demenzpflege und -betreuung habe ich miterlebt, was sich in all den Jahren entwickelt und Kosten erzeugt hat. Ich erfuhr, was Ressourcen verschleuderte und den Menschen nichts brachte. Ich sah auch, was auf irgendeiner Weise den Menschen mit Demenz zu Gute kam.

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Das Argument der Politik ist immer das Gleiche: Wir brauchen Sicherheit! Wir sind verantwortlich, dass nichts passiert, wofür man uns angreifen könnte! Es geht vor allem darum, dass dem Heer der Bürokraten, Beamten und Verwalter kein Vorwurf gemacht werden kann, irgendetwas verpasst zu haben. Das Wichtigste ist, dass die Normen erfüllt sind, denn so sind Bürokraten und Politiker fein raus.

Wollen Sie ein paar Beispiele? Bitte sehr, hier sind sie:

1. Unrealistische Personalpläne in der Pflege

Vorschriften legen fest, wieviel Personal vorhanden sein muss mit einer höheren Fachausbildung. Wir leben in einer Zeit, in der diese Fachkräfte gar nicht existieren. Die Betriebe stellen temporäre Mitarbeitende ein, ausschliesslich um diese Anforderung zu erfüllen. Wohl wissend, dass damit zwar das Formale eingehalten wird. Aber im Alltag bringt dies keinerlei Qualität. Darum geht es ja nicht, viel wichtiger ist die Erfüllung der Norm.

Das System bildet jedes Jahr viele Fachangestellte Gesundheit (FaGe) aus. Nach drei Jahren Ausbildung erhalten sie aber kaum Kompetenzen, um Verantwortung übernehmen zu können. Nein, die Bürokraten finden, es braucht höhere Ausbildungen, um pflegen zu können und Aufstiegschancen zu haben.

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Wer dann aufgestiegen ist, will weg vom Bett, hin ins Büro. Und Büros gibt es mittlerweile überall: zum Beispiel in den Verwaltungen und in den immer grösser werdenden Pflegekonzernen. Immer mehr Büros gibt es auch bei den Krankenkassen, die für die Kontrolle der Pflegeeinstufungen solche Büropflegekräfte benötigen. So wird aus einer im Alltag frustrierten Pflegekraft eine Kontrolleurin, die jetzt die Interessen der Kassen vertritt, nämlich Geld zu sparen.

Der Mangel an diesen Pflegenden führt selbstredend dazu, dass in einem Mangelberuf die Bedingungen einseitig bestimmt werden können. Und die Opferrolle ist bei den Pflegenden. Diese Rolle ist man ja seit jeher gewohnt und da lässt sich gut damit leben.

2. Zuwendung zu Menschen mit Demenz im Alltag

Wie soll Zuwendung funktionieren, wenn alle Tätigkeiten fragmentiert sind, weil die Pflegefachkraft mit höherer Ausbildung im Alltag immer weniger bei den Menschen ist? Man kann viel erfahren, spüren und kennen lernen, wenn man Menschen begleitet – bei der Pflege, beim Essen reichen und bei der Alltagsgestaltung. Dies alles lässt sich kaum dokumentieren, wie es die Krankenkassen wünschen. Aber sich in dieser Fülle von Menschlichkeit zu bewegen ist sehr wertvoll. Aber wer will das noch?

3. Der Aufwand für Medikamente hat sich verfünffacht

Ich erinnere mich gut an den ersten Besuch der Dame von der kantonalen Arzneimittelbehörde. Nach ihrem Besuch war wirklich gar nichts mehr gut. Sie war zwar sehr freundlich, als sie ihre Thermometer in den verschiedenen Räumen platzierte. Ein paar Wochen später kam dann der erste Bericht. Darin war aufgeführt, was alles nicht mehr geht und in welcher Frist was zu erfüllen sei.

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Heute müssen die Räume, in denen Medikamente aufbewahrt werden, klimatisiert sein. Es gelten das Vier-Augen-Prinzip und die Pflicht, episch zu dokumentieren. Der Zeitaufwand gegenüber früher beträgt mindestens Faktor fünf. Vordergründig geht es natürlich auch hier um Patientensicherheit.

Tatsächlich soll auch dieser Bereich durchsichtig gemacht werden, um jegliche Gefahr der Verantwortung einer Behörde zu bannen. Der angesehene Ökonom Mathias Binswanger weist immer wieder auf diese ausufernde Bürokratie hin. Auch er wird nicht gehört.

4. Absurder Brandschutz in den Pflegeinstitutionen

Eine Verwaltungsabteilung, die sich seit Jahren völlig verselbständigt hat, ist der Brandschutz. Bilder sind heute keine Kunst oder Wanddekoration mehr, sondern eine Brandlast. Möbel müssen am Boden festgeschraubt werden, damit sie nicht im Weg stehen können. Da werden Kosten erzeugt, um Restrisiken zu vermeiden, die in keinerlei Verhältnis stehen zu dem, was tatsächlich ein Risiko darstellt. Was gestern bewilligt wurde, wird heute beim Einzug bereits nicht mehr geduldet. Niemand weiss mehr, um was es eigentlich geht.

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Paniktüren ins Freie sind offen zu halten, damit auch Menschen mit Demenz nach draussen fliehen können. Nur: Im Brandfall gehen diese Menschen eben nicht zur Paniktüre, weil sie die Symbole nicht verstehen. Aber ohne Brand sind diese Türen gut zu nutzen, zum Beispiel um nachts im Pyjama in die Kälte zu gehen und zu erfrieren. Das alles spielt keine Rolle, Hauptsache den Vorschriften ist genüge getan. Auch das frisst Ressourcen, nicht nur Geld, der Brandschutz «frisst» vor allem die Wohnlichkeit. Die Vorschrift steht im Mittelpunkt, und nicht der Mensch.

5. Das liebe Pflegepersonal

Wer Pflege lernt, sollte sich bewusst sein, was Pflegen bedeutet. Auch heute bedeutet dies, 24 Stunden pro Tag und 7 Tage pro Woche und 365 Tage pro Jahr gebraucht zu werden. Dies sollte grundsätzlich allen Pflegenden bekannt sein.

Je weniger Pflegende dies zu leisten bereit sind, desto mehr trifft es die immer weniger werdenden an deren Wochenende. Und schon haben wir den nächsten Teufelskreis. Wenn niemand mehr an den Wochenenden oder nachts arbeiten will, werden wohl verstärkt wieder Angehörige helfen müssen. Oder das System sucht auch da nach Lösungen, die formal alle Vorgaben erfüllen, fachlich aber nichts zur Qualität beitragen können.

Die Lösung mit den Einwander:innen scheint ja auch nicht mehr so gut zu funktionieren, Care Migrant:innen versorgen die Menschen zu Hause, und nicht im Heim.

Zu Hause spielt es übrigens keine Rolle, wer die Medikamente verabreicht und wie sie gelagert werden.

Ob es tatsächlich genügt, die Zulagen massiv zu erhöhen, um an den Randzeiten genügend Personal zur Verfügung zu haben, wage ich zu bezweifeln. Ein Versuch wäre es wert.

6. Für alles gibt es eine Expertin

Wundexpertin, Schmerzexpertin, Stomaexpertin, Diabetesexpertin usw.: Für alles gibt es heute die Expertin. Die examinierte Pflegekraft braucht zunehmend Fremdunterstützung. Und ihre Arbeit wird dadurch zwangsläufig eintöniger. Die Menschen an der Pflegefront werden zu delegierten Aufgabenerfüllenden: Die Dummen sind am Bett und die Gescheiten im Büro. So könnte man das zusammenfassen.

Die Pflege scheint sich abschaffen zu wollen, indem man möglichst viele möglichst hoch qualifiziert und damit einen Mangel an der Basis erzwingt.

Gerade im Kontakt mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, braucht es Qualitäten wie Empathie, Haltung, angepasste Kommunikation, ethisches Bewusstsein für schwierige Situationen, Bewegungskompetenz und vieles mehr, was vor allem an der Basis angewendet werden muss. Und nicht im Büro einer Verwaltung.

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Sehr oft wurden mir diese Bildungsbüchlein voll ausgefüllt vorgezeigt, was man alles gelernt hat. In der Praxis war davon nichts oder nicht viel zu spüren. Für Haltung und Empathie, die es im Umgang mit Menschen mit Demenz vor allem anderen braucht, gibt es eben keine Diplome. Es ist zu einfach, dann zu sagen, es waren halt schlechte Bedingungen.

Da steht jede Pflegeperson in der eigenen Verantwortung, dass das Gelernte auch umgesetzt wird. «Pflege leben» ist eine Haltung und kein Titel. Und das hat auch mit Verantwortung zu tun, sich selbst gegenüber und gegenüber den Menschen, die man betreut und pflegt.

In diesem Beitrag habe ich mich nicht geäussert zu dieser alles zerstörenden Dokumentationswut und den damit verbunden zeitlichen und finanziellen Aufwänden. Ebenso habe ich nichts geschrieben zu betrieblichen Strukturen, die Qualität beim Menschen spürbar werden lassen, auch nichts zu Architektur und Gestaltung von Institutionen für Menschen mit Demenz. Man kann Strukturen schaffen, damit es den Menschen mit Demenz gut gehen kann. Aber es braucht auch da Meschen, die ihren Beruf auch als Berufung betrachten. Die scheint es immer weniger zu geben.