„Jede Krise ist eine Krise des Systems im Kontext seiner Umwelt“

<p>Egon Zeimers plädiert für eine ganzheitliche Sicht auf die Probleme, Fragmentierung liefere keine Lösungen, sondern schaffe anderswo neue Probleme.</p>
Egon Zeimers plädiert für eine ganzheitliche Sicht auf die Probleme, Fragmentierung liefere keine Lösungen, sondern schaffe anderswo neue Probleme. | Foto: David Hagemann


Seit Monaten beschäftigen uns Journalisten täglich die Corona-Fallzahlen, wir befragen Experten und Politiker zu ihren Einschätzungen der getroffenen Maßnahmen und zu ihren Prognosen. Als Systemdenker beschäftigen Sie sich – nehme ich mal an – mit den Mustern hinter den Zahlen. Ist diese Krise anders als andere Krisen oder trägt sie nur... eine andere Maske?


Ich sehe nur viele Menschen, die Masken tragen... Im Ernst: Natürlich ist jede Krise anders. Eine große Krise wie die aktuelle Corona-Pandemie ist die Summe von Millionen, ja Milliarden individueller Krisen. Und jeder Mensch nimmt die Krise anders wahr, erklärt und bewertet sie anders, erlebt sie anders, erleidet sie anders. Jeder Einzelne bewältigt eine Krise anders – wenn er sie denn nachhaltig zu bewältigen vermag. Diese Krise ist aber auch nicht anders als jede andere Krise, wenn wir auf das Wirkungsgefüge, die inneren Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Dynamiken schauen.


Versteckt sich hinter der Coronakrise vielleicht eine ganz andere Krise?


Die Krise ist, wie gesagt, das, was wir erleben und wie wir darauf reagieren. Die Krise ist das, was wir draus machen. Der Name, den wir einer Krise geben, sagt etwas darüber aus, wie wir die Krise wahrnehmen und sie einordnen. Und wie wir uns der Krise stellen wollen. Der Name der Krise kann eine Maskierung sein, meistens ist er es sogar. Interessant ist dann, was wir kaschieren wollen. Diese Krise nennen wir Coronakrise – völlig unzutreffend und unangemessen, wie ich finde.


Aber das in China erstmals aufgetauchte Virus SARS-Cov-2, das so genannte Coronavirus, ist doch die Ursache für die Krise.


Wirklich? Lassen Sie uns das Ganze doch einmal differenzierter betrachten. Was macht das Virus? Was macht es nicht? Das Virus verändert nicht alles, wie ich jetzt allenthalben lese und höre. Corona verändert gar nichts – außer bei denen, die unmittelbar von diesem Virus betroffen sind, also Patienten, Ärzte, Krankenpfleger, Familienangehörige. Aber: Legt Corona das komplette öffentliche Leben, die Wirtschaft und die Finanzmärkte lahm? Schließt Corona Schulen, Restaurants und Kneipen, Sport- und Kultureinrichtungen? Nein, das alles macht Corona nicht. Das machen regierende Politiker auf Empfehlung von ein paar Wissenschaftlern.


Die Politiker haben diese Maßnahmen getroffen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen oder gar zu verhindern. Und das haben sie, zumindest in Belgien, ja auch erreicht.


Mag sein. Mit ihren brutalen und eindimensionalen Maßnahmen haben die Politiker aber gleichzeitig die Wirtschaft an die Wand gefahren. Dafür können sie nicht eine drohende Pandemie verantwortlich machen. Dafür müssen sie selbst die Verantwortung übernehmen. Das tun die Politiker aber nicht. Stattdessen stellen sie sich großartig als Retter hin, schmeißen mit irrwitzigen Summen von Geld, das sie nicht haben, um sich, um mutmaßlich die Wirtschaft anzukurbeln. Und die Journalisten, die ja die Aufsichtsinstanz der Politik bilden und eine Kontrollfunktion innehaben, stehen Spalier und spenden Applaus.


Aber es gibt doch auch Journalisten, die sehr kritisch auf die Corona-Politik schauen.


Etliche kritische Stimmen mag es geben, sie werden aber im Mainstream der konzertierten Meinung rasch übertönt. Es fehlt die differenzierende Betrachtung, die systemische Sicht auf ein Ganzes. Wer ein Problem lösen soll und bei dem Versuch, ich betone: bei dem Versuch, dieses Problem zu lösen, gleich zehn neue Probleme schafft, der erledigt - ich formuliere es mal bewusst sehr zurückhaltend - seinen Auftrag nicht gut. Nennen Sie mir einen Beruf oder einen Job, bei dem Sie mit einer derartigen Negativ-Performance überleben könnten.


Was haben die Politiker denn falsch gemacht?


Virologie und Epidemiologie sind Teile eines größeren Systems, des Gesundheitssystems. Das Gesundheitssystem ist Teil eines größeren Systems, einer nationalen Volkswirtschaft. Länder wie Belgien oder Deutschland sind Teile eines größeren Systems, der EU. Die EU ist Teil eines größeren Systems, der Weltgemeinschaft. Und was machen die Politiker in den nationalen Regierungen? Sie hören nur auf Virologen und Epidemiologen, sie tun alles, um das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren, und blenden das Wirtschaftssystem, das Sozialsystem, das Rechtssystem, das Bildungssystem, das Kultursystem kurzerhand aus. Und sie schließen die Landesgrenzen. Eine Pandemie ist aber keine nationale Angelegenheit, sondern eine länderübergreifende Seuche. Die Coronakrise ist eine globale Krise, also müssen die Politiker in globalen Zusammenhängen denken und handeln. Es ist zwingend notwendig, ein Problem in seinem Kontext zu sehen, im Kontext von anderen Problemen, Aufgaben und Herausforderungen. Deshalb müssten Politiker auch in systemischen Zusammenhängen denken. Tun sie aber auch nicht.


Könnten sie das denn?


Nein, das kann man nicht einfach mal so. Aber sie könnten systemisch denken lernen. Es würde sich dann allerdings eine paradoxe Situation ergeben: Würden die Politiker bei komplexen Problemen – und sie haben es immer mit komplexen Problemen zu tun – tatsächlich systemisch denken, entscheiden und handeln, wären sie zwar in der Lage, mit einer Krise wie der Corona-Pandemie adäquat umzugehen, dafür würden sie aber die Bedingungen für ihr politisches Überleben nicht verbessern.


Wie meinen Sie das?


Die Leistungen der Politiker werden in Wahlperioden gemessen, so wie Quartalsberichte und Jahresbilanzen die Erfolge bzw. Misserfolge von Managern abbilden. Es mag den Bürgern sicherlich schwer zu vermitteln sein, dass, beispielsweise, eine Maßnahme zunächst einmal nur Nachteile, zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt – möglicherweise erst nach der nächsten Wahl – aber Nutzen bringen kann, wobei auch das nicht gewiss ist. Dass die Bürger demnach diese Politiker nicht wiederwählen, dürfte wohl gewiss sein.


Was muss geschehen, damit wir aus der Coronakrise die Schlussfolgerungen ziehen, die wir nach bisherigen Krisen nicht gezogen haben? Brauchen wir etwa ein neues Denken?


Die vielen ungelösten Probleme in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die zunehmenden Krisen und Umweltkatastrophen sind eindeutige Beweise: Es ist allerhöchste Zeit, dass wir Fortschritt nicht länger nur auf der materiellen oder technokratischen Ebene verorten. Was immer die großen Herausforderungen und Aufgaben des 21. Jahrhunderts sind – wir werden ihnen nur dann wirklich gewachsen sein, wenn wir zu ungewöhnlichen Veränderungen, ja zu Durchbrüchen fähig sind. Diese Veränderungen müssen – davon bin ich zutiefst überzeugt – sowohl persönlicher wie auch systemischer Art sein.


Und was heißt das konkret?


Unser Ziel muss es sein, mit Komplexität besser fertig zu werden. Besser als mit dem traditionellen mechanistischen, linear-kausalen Denken, mit dem wir die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systeme schwächen und mit dem wir die Ökosysteme in den Kollaps treiben. Die Coronakrise ist das beste Beispiel dafür, dass wir nicht imstande sind, angemessen auf komplexe Phänomene zu reagieren. Wir wollen ein Problem lösen, und mit der vermeintlichen Lösung schaffen wir neue Probleme. Mit ihren Corona-Maßnahmen wollen die Politiker Leben schützen, dabei zerstören sie aber sehr viele wirtschaftliche und persönliche Existenzen. Das kann doch, mit Verlaub, nicht einmal im Ansatz als erfolgreiches politisches Handeln bewertet werden.


Lassen Sie uns mal diese Komplexität näher anschauen. Wie definieren Sie Komplexität?


Alle reden von Komplexität. Viele, so scheint mir, betrachten Komplexität we ein Synonym für Kompliziertheit oder wie deren Steigerungsform. Wir operieren mit einem gesamten System, mit einer Volkswirtschaft zum Beispiel, als wäre es nicht ein System, sondern eine Ansammlung von Teilsystemen, die unabhängig voneinander existieren. Wir zerlegen ein großes System in seine Subsysteme und beschäftigen uns dann mit einem dieser Subsysteme. Wir glauben, wir könnten ein Problem nach dem anderen lösen, ohne zu berücksichtigen, dass das Krankenhaussystem mit dem Gesundheitssystem, mit dem Wirtschaftssystem, mit dem Rechtssystem, mit dem Sozialsystem, mit dem Bildungssystem, mit dem Kultursystem zusammenhängt. Deshalb beachten wir auch nicht, dass unsere Maßnahmen Neben-, Folge- und Fernwirkungen haben werden. Viele dieser Wirkungen sind nicht sofort erkennbar, sondern oft erst mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung. Komplex ist etwas, was unvorhersehbar, nicht steuerbar, nicht komplett beherrschbar, nicht kontrollierbar ist. Komplex wird etwas, sobald der Mensch seine Finger im Spiel hat.


Und was heißt, systemisch zu denken?


Komplexität erzeugt Unsicherheit, und Unsicherheit erzeugt Angst. Vor dieser Angst wollen wir uns schützen. Darum blenden wir alles aus, was komplex, also undurchschaubar, unvorhersehbar, unberechenbar und unkontrollierbar ist. Und konzentrieren uns stattdessen lieber auf einen Ausschnitt, den wir kennen oder rasch kennenlernen können, von dem wir glauben, dass wir ihn zu managen in der Lage sind. Dieser Ausschnitt ist allerdings, wie gerade beschrieben, keine eigenständige Einheit oder Entität – er ist immer Teil eines größeren Ganzen. Dieser Teil, mit dem wir uns beschäftigen, ist mit anderen Teilen, oftmals auch unsichtbar, verbunden. Wenn wir die Zusammenhänge, die Beziehungen, die Interaktionen, die Wirkungen und Gegenwirkungen zwischen den Teilen eines Ganzen wahrnehmen, erklären und bewerten, denken wir systemisch. Erst dann können wir komplexe Vorgänge oder Phänomene verstehen. Das tun wir in der gegenwärtigen Coronakrise nachweislich nicht.


Sie haben eine tiefe persönliche Krise erlebt und durchgestanden. Kann man von einer persönlichen Krise valide Rückschlüsse auf größere Krisen, ja sogar Systemkrisen ziehen?


Meine Krise hat mich gelehrt zu verstehen, was eine Krise ist, wie eine Krise entsteht und wie man sie meistert. Der Mensch verhält sich seiner Umwelt gegenüber nie planlos, also heute so und morgen ganz anders. Die Anpassung an die Umwelt ist lebenswichtig, und sie führt bei jedem Individuum unweigerlich zu bestimmten Verhaltensmustern, die alle nur ein Ziel haben: zu überleben. Das Blöde ist, dass sich die Umweltbedingungen, die Umstände, die Herausforderungen ändern, und plötzlich wirken die Verhaltensmuster nicht mehr. So war das auch bei mir. Ich war am Anfang meiner Krise nicht in der Lage, meine Verhaltensmuster, die sich über Jahre und Jahrzehnte bewährt hatten, zu ändern und nach neuen Lösungen, sprich: neuen Mustern zu suchen. Schon war ich in der Krise.


Aber Krise ist ja auch eine Chance, lehrt man uns.


Krise klingt wie Krätze. Keiner will sie haben. Dabei ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes tatsächlich gar nicht so negativ. „Krise“ geht auf das altgriechische Verb „krinein“ zurück, und „krinein“ bedeutet: trennen, scheiden, unterscheiden. Eine Krise ist also zunächst einmal das, was ich eine Unterscheidungssituation nenne: Ist etwas gut oder schlecht für mich? Ist es Chance oder ist es Schicksal? Überwiegt die Angst oder aber die Hoffnung? Erst wenn ich diese Unterscheidungen mache, kann ich wählen und entscheiden: Vermag ich die Dinge zum Guten oder zum Schlechten zu wenden? Und was kann, was muss ich selbst dafür tun? Übernehme ich Verantwortung für mich und mein Leben – oder schiebe ich diese Verantwortung auf andere? Oder auf die Umstände? Wobei klar sein muss, dass natürlich immer beides möglich ist: das Gute und das Schlechte. Der Ausgang ist ungewiss. Jede Krise ist eine Krise des Systems im Kontext seiner Umwelt. Egal, ob wir auf ein soziales System oder auf ein Individuum schauen.


Liegt unser Problem dann nicht darin, dass wir die Coronakrise als etwas nie Dagewesenes empfinden?


Covid-19 ist doch nicht die erste Infektionskrankheit der Weltgeschichte, die eine Epidemie beziehungsweise Pandemie ausgelöst hat. Mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920, der Asiatischen Grippe von 1957 bis 1958, der Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970 und der Russischen Grippe von 1977 bis 1978 gab es im vorigen Jahrhundert vier Influenza-Pandemien. Im frühen 21. Jahrhundert kam mit der Schweinegrippe eine weitere hinzu, das war 2009. Nicht nur aufgrund der Vielzahl historischer Pandemien, sondern vielmehr wegen der bekannten Übertragungswege und den für pandemische Krankheitserreger günstigen Bedingungen in der globalisierten und vernetzten Welt war es nur eine Frage der Zeit, bis uns eine weitere Pandemie heimsuchen würde.


Die Risiken waren demnach bekannt, zumindest den Experten.


In der Tat: Die Weltgesundheitsorganisation WHO und auch das Robert-Koch-Institut zum Beispiel verfügen seit langem über Pandemiepläne für Influenzawellen. Und nach der SARS-Pandemie im Jahr 2003 wurde nicht nur an Influenza-Pandemien gedacht. Den Ausbruch eines modifizierten, deutlich infektiöseren Coronavirus – das Virus also, das uns derzeit bedroht – hat das Robert-Koch-Institut bereits 2012 als Eventualfall durchdacht und dem damaligen Deutschen Bundestag vorgelegt.


Wenn also vorhersehbar war, dass die Welt früher oder später eine schwerwiegende virale Pandemie erleben würde, wieso hat man dann nicht mit der gebotenen Alarmbereitschaft auf den Ausbruch von Covid-19 im chinesischen Wuhan reagiert?


Die Regierungen zogen es offenbar vor, zunächst einmal gelassen zu bleiben. Man sei vorbereitet. Viele Experten verglichen das neue Coronavirus mit einer Grippe. Ende Februar noch ließ Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité, verlauten, er würde natürlich weiterhin nach Italien reisen. Wenige Tage später zeigten Filmaufnahmen und Fotos aus lombardischen Krankenhäusern wie in Bergamo kriegsähnliche Zustände. Und Italien vollzog den Shutdown. Übrigens, diejenigen, die zu Beginn des Infektionsausbruchs in Wuhan das Coronavirus für eine ganz gefährliche Sache hielten und vor einer Pandemie warnten, wurden von Politikern und Journalisten als Verschwörungstheoretiker hingestellt.


Wieso greifen bei der Coronakrise eigentlich unsere Erfahrungen mit anderen Krisen nicht?


Finanzkrise, Bankenkrise, Euro-Krise, EU-Krise, Flüchtlingskrise, Klimakrise. Krise war doch immer, wenn wir auf die letzten zehn, zwölf Jahre zurückblicken. Wir sind fortlaufend im Krisenmodus, ich behaupte: Wir haben eine Krisenkrise. Die Krisen sind kein Zufall, sie sind nicht wie eine Heimsuchung über uns gekommen. Auch Corona ist weder wie ein Tsunami über uns hereingebrochen, noch ist es höhere Gewalt. Corona ist von Menschen gemacht. So gesehen, ist es eine Menschheitskrise. Das aber wird total ausgeblendet. So lange wir Menschen – also auch Politiker und Journalisten – uns nicht als Teil des Problems, der Krise sehen, so lange werden wir eine Krise nicht überwinden und bleiben in der Permakrise. Wir haben aus all den Krisen nichts gelernt, und wir werden auch aus der Coronakrise nichts lernen.


Wie begründen Sie diese pessimistische Einschätzung?


Wir stehen vor einer ganzen Reihe alarmierender globaler Probleme. Eigentlich müssten wir längst verstanden haben, dass wir sie nicht als Einzelprobleme verstehen dürfen. Es sind Probleme, die miteinander verbunden sind und die sich wechselseitig beeinflussen. Erklärbar sind sie nur als Phänomene oder Ausprägungen ein und derselben Krise. Diese Krise ist in erster Linie eine Krise der Wahrnehmung. Und der Keim dafür liegt darin, dass wir, vor allem aber unsere großen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, auf ein völlig veraltetes, unangemessenes Weltbild fixiert sind.


Welches Weltbild meinen Sie?


Unsere Welt ist ein System von interagierenden Teilsystemen. Wir aber glauben immer noch, wir könnten die Welt in voneinander unabhängige und eigenständige Teilbereiche auftrennen, in Wissenschaftsgebiete, Fachdisziplinen, Ressorts, Organisationseinheiten, Länder, Kontinente. Der US-amerikanische Quantenphysiker und Philosoph David Bohm nannte diese Art und Weise, auf die Welt und auf uns selbst zu schauen, das Virus der Fragmentierung. Dieses Virus, so scheint mir, ist viel gefährlicher als das aktuelle Coronavirus.


Verdeckt die Coronakrise dann nicht eine im Grunde viel gravierendere Krise, der wir uns nicht stellen wollen?


Auf unserem Planeten geschehen sehr viel schlimmere Dinge als Corona. Corona ist definitiv nicht unser größtes Problem, auch wenn es derzeit danach aussehen sollte. Das größte Problem ist und bleibt das ökologische Desaster, das wir Menschen mit wachsendem Tempo anrichten. Wir vernichten die Lebensräume von Tieren. Wir zerstören die Artenvielfalt auf unserem Planeten. Wir ruinieren die Lebensgrundlage, auf der wir Menschen und alle anderen Geschöpfe stehen. Ganz klar, die Coronakrise ist ein Teil der ökologischen Krise.


Wieso blicken wir dann so hysterisch auf ein Virus, das sicher nicht das Gefahrenpotenzial von Pest und Pocken hat? Und blenden die größeren Probleme aus?


Andere Krisen, die Klimakrise oder die Migrationskrise etwa, sind ja nicht überwunden. Beim Klima oder bei den Flüchtlingen handelt es sich, zum jetzigen Zeitpunkt, um sogenannte implizite Probleme. Solche Probleme sind da, aber wir sehen sie nicht oder wollen sie gerade nicht sehen. Corona hingegen ist ein explizites Problem. Zu dem Zeitpunkt, in dem sich die Menschen mit einem plötzlich auftretenden Problem beschäftigen, denken sie an dieses eine Problem und nicht mehr an die Probleme, die im Moment nicht so akut sind. Wir lösen nicht die Probleme, die wir lösen sollen, sondern die Probleme, von denen wir glauben, sie lösen zu können.


Hat es Sie verwundert, wozu Regierungen in der Lage sein können, wenn sie, wie in der Coronakrise, nur wollen?


Im Fall des Klimawandels haben die Politiker die Ratschläge der Experten allenfalls als Empfehlungen betrachtet, die sich angeblich nicht umsetzen ließen. Bei Corona nun wird so ziemlich alles realisiert, was die Virologen, Epidemiologen und Infektiologen, vorgeben. Innerhalb kürzester Zeit sind auch die drastischsten Maßnahmen und Einschnitte in wirtschaftliches, öffentliches und privates Leben möglich gewesen – bis hin zur Einschränkung von Grundrechten. In der Coronakrise sehen die regierenden Politiker – und mit ihnen die Horden von Technokraten und Bürokraten – die ganz große Stunde, Entscheidungskompetenz, Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft zu demonstrieren. Das kommt offensichtlich vielen Bürgern beinahe wie ein Segen vor, anders lassen sich die anhaltend positiven Bewertungen besonders restriktiver Politiker nicht deuten. Einer der größten Fehler im Umgang mit Komplexität ist übrigens autoritäres oder gar diktatorisches Verhalten. Mit dem aktuellen Krisenmanagement werden regierende Politiker sich allenfalls über die nächste Wahl retten, uns Menschen aber nicht vor der drohenden ökologischen Katastrophe.


Wieso denken wir – in Ihren Augen –, wir könnten es uns leisten, uns der Öko-Krise nicht zu stellen?


Wir denken halt, wir könnten uns zuerst dem einen und dann, je nach Dringlichkeit, einem anderen Problem usw. widmen. Wir Menschen sind Teil eines globalen Lebenssystems. Aber wir tendieren dazu, nicht auf die Ganzheit dieses Systems zu schauen, sondern immer wieder nur auf den einen oder anderen Teil. Wir suchen nach überschaubaren und nachvollziehbaren Verbindungen von Ursache und Wirkung, und wir glauben, mit simplen Wenn-dann-Regeln direkt und zielgenau darauf Einfluss nehmen zu können. Dabei haben wir die komplexen Zusammenhänge und Dynamiken auf unserem Planeten überhaupt nicht im Blick. Und haben keine Vorstellung davon, wie sehr unser Überleben davon abhängig ist, dass diese Zusammenhänge und Dynamiken intakt bleiben.


Wir haben eben eine komplett auf den Menschen konzentrierte Sicht auf alles.


Vielen scheint nicht wirklich bewusst, dass wir ein Teil der Natur sind. Unser Überleben als Spezies ist nur garantiert, wenn das Überleben der anderen Arten sicher ist. Wir stellen uns aber über alle anderen Arten in Fauna und Flora und sind fleißig dabei, sie Schritt für Schritt zu zerstören. Der britische Wissenschaftler James Lovelock hat Mitte der 1970er-Jahre eine großartige Theorie entwickelt, die so genannte Gaia-Hypothese. Gaia ist bekanntlich in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde. Unsere Erde ist also ein einziges Lebewesen, bei dem alles im Gleichgewicht sein sollte – wie bei einem gesunden Menschen. Wenn es nun aber einen Faktor gibt, der für ein Ungleichgewicht sorgt – die Menschen mit ihren Aktionen –, dann trifft dieser Megaorganismus Gaia Vorkehrungen, um alle Parameter ins Gleichgewicht zu bringen.


So gesehen könnte man die gegenwärtige Corona-Pandemie für einen Wink mit dem Zaunpfahl halten, den Gaia uns Menschen gibt.


Ja, in der Tat könnte es einem so vorkommen, als ob die Natur uns einen Schubser gibt, ach was: einen Fußtritt in den A... Die Botschaft lautet: Wenn ihr Menschen euren Lebensstil nicht ändert, wenn ihr euch nicht an die Natur anpasst, werden apokalyptische Dinge passieren. Wir sollten die gegenwärtige Pandemie als Warnung verstehen. Wenn wir uns nicht verändern, wenn wir unsere Denk- und Verhaltensmuster nicht brechen, und zwar schnell, können wir uns in Zukunft auf viel Schlimmeres gefasst machen. Es ist ein bisschen wie mit der Mafia. Beim ersten Mal warnt sie dich, beim zweiten Mal macht sie ein bisschen was kaputt, beim dritten Mal legt sie eine Bombe.


Zur Person

Egon Zeimers ist Systemdenker. Er hat sich die wichtigsten Kompetenzen angeeignet, die man in einer hochgradig komplexen Arbeits- und Lebenswelt benötigt, um sein Überleben zu sichern. Als Komplexitätsberater und Krisenlotse weiß er, was der Mensch braucht, um Risiken einschätzen, mit Ungewissheit umgehen und dabei Nichtwissen aushalten zu können, damit er aus Krisen nicht nur gestärkt, sondern gewandelt – und klüger herauskommt. Zeimers bietet, gerade in einer Zeit permanenter Umwälzungen und Veränderungen, Individuen und Organisationen Orientierung. Dabei schlüpft er gerne in die Rolle des modernen Hofnarrs, der den Menschen den Spiegel vorhält, sie intelligent irritiert und provoziert – und sie einlädt, nachzudenken, umzudenken, anders zu denken.

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