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Brisanter Brief an Scheuer Seehofer drang auf schärfere Regeln für Seenotretter

Ein internes Schreiben zeigt, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer Verkehrsminister Scheuer überzeugen wollte, deutsche Seenotretter stärker zu drangsalieren. Die Beziehungen zu Italien ständen auf dem Spiel.
Aktivistin der »Alan Kurdi«: 150 Menschen gerettet

Aktivistin der »Alan Kurdi«: 150 Menschen gerettet

Foto: CEDRIC FETTOUCHE/ AFP

An Bord der »Alan Kurdi« befinden sich sieben Toiletten, die Abwassertanks des zivilen Rettungsschiffes messen 14 Kubikmeter. Nicht mal die Crew weiß das aus dem Kopf, doch am 7. Mai, mitten in der ersten Welle der Corona-Pandemie, beschäftigte sich der deutsche Innenminister mit den Zahlen.

Die italienischen Behörden hatten zu diesem Zeitpunkt die »Alan Kurdi« im Hafen in Sizilien festgesetzt. Trotz der Warnungen der deutschen und italienischen Behörden war die Crew als einziges privates Seenotrettungsschiff ausgelaufen, 150 Flüchtlinge brachte sie an Land. In Rom war man nicht begeistert. Mitten in der Pandemie konnte die Regierung die Bilder gestrandeter Migrantinnen und Migranten nicht gebrauchen.

Bei einer Kontrolle stellten die italienischen Behörden anschließend technische Mängel fest. Unter anderem seien die Abwassertanks zu klein, hieß es. Das unter deutscher Flagge fahrende Schiff durfte vorerst nicht mehr auslaufen.

»Alan Kurdi« im Mittelmeer: Immer wieder festgesetzt

»Alan Kurdi« im Mittelmeer: Immer wieder festgesetzt

Foto: Karsten Jäger/ dpa

Zwei Tage später schrieb Horst Seehofer in der Sache an Verkehrsminister Andreas Scheuer, der Brief liegt dem SPIEGEL vor. Er sei bereits mehrfach auf die unterschiedliche rechtliche Bewertung der italienischen Behörden und der deutschen Flaggenstaatsbehörde hingewiesen worden, heißt es darin. Seehofer schlägt sich auf die Seite Roms.

»Es besteht nach meiner Auffassung eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die Ausrüstung von Frachtschiffen, welche im vorliegenden Falle an das Schiff angelegt werden, und den tatsächlichen Erfordernissen, welche in der selbsterklärten Mission des Schiffes liegen.« Seehofers Argumentation ist die Italiens: Da das Schiff regelmäßig viele Menschen rette, müssten für sie strengere Regeln gelten als für normale Frachtschiffe. Die Abwassertanks seien nur für die Besatzung ausgelegt, nicht aber für die hohe Zahl an Flüchtlingen an Bord.

In dem Schreiben , das der SPIEGEL vom Transparenzportal Frag den Staat erhalten hat, hat die Bundesregierung den Namen des Schiffes geschwärzt. Allerdings bestehen keine Zweifel, dass es um die »Alan Kurdi« geht. Das lässt sich anhand von mehreren erwähnten Daten rekonstruieren.

Italien setzt systematisch Schiffe fest – und macht Druck auf Deutschland

Die italienischen Behörden hindern die Seenotretter seit Monaten immer wieder am Auslaufen. Meist liegen die Schiffe dann monatelang im Hafen, bis alle Mängel behoben werden können. Die NGOs sprechen von einer gezielten Kampagne.

»Salvinis Gezeter war nicht so effektiv wie die Politik der aktuellen Regierung«, sagt Gorden Isler, Vorsitzender des Vereins Sea-Eye, der die »Alan Kurdi« betreibt. Die Mitte-Links-Regierung gehe geräuschlos, aber erbarmungslos vor. Die Behörden schickten bei den NGO-Schiffen immer dieselben Kontrolleure aus Rom, die dann jedes Mal neue Kleinigkeiten beanstanden würden. »Dabei ist bei uns an Bord noch nie ein Flüchtling aufgrund mangelnder Ausrüstung zu Schaden gekommen.«

»Wenn Seehofer sich durchsetzt, sterben noch mehr Menschen.«

Gorden Isler, Sea-Eye

Im zentralen Mittelmeer sind in diesem Jahr mindestens 739 Bootsflüchtlinge ertrunken. Eine staatliche Rettungsmission hat die EU längst eingestellt. Im besonders tödlichen November waren zeitweise keine zivilen Rettungsschiffe vor der libyschen Küste unterwegs. Allein fünf Schiffe konnten nicht auslaufen, weil italienische Behörden sie bei Hafenkontrollen festgesetzt hatten. Mal beanstandeten die Kontrolleure überschüssige Rettungswesten, bisweilen ging es wie bei der »Alan Kurdi« um die Toiletten. Derzeit ist ein Rettungsschiff unterwegs, die »Alan Kurdi« darf die Mängel immerhin in einem spanischen Hafen beseitigen.

Seehofers Brief offenbart, wie sehr sich der Innenminister die Bemühungen Italiens zu eigen macht. Vehement setzt er sich für verschärfte Bestimmungen ein. »Seehofer will uns an die Kette legen, indem er versucht, eine neue Kategorie allein für zivile Seenotretter einzuführen«, sagt Isler. »Für uns wäre das verheerend.« Im schlimmsten Fall könnte Deutschland der »Alan Kurdi« das Sicherheitszeugnis entziehen. Sea Eye müsste ihr Schiff dann ausmustern oder teure Umbauten vornehmen, die sich der Verein kaum leisten kann. »Die deutschen Rettungsschiffe wären für viele Monate nicht einsatzfähig«, sagt Isler. »Wenn Seehofer sich durchsetzt, sterben noch mehr Menschen.«

Das Innenministerium teilte auf Anfrage mit, die Bundesregierung versuche lediglich, humanitäre Notfälle auf dem Mittelmeer zu verhindern. Wobei damit nicht Bootsunglücke gemeint sind, sondern Notlagen an Bord der oft überfüllten Rettungsschiffe, die regelmäßig wochenlang keinen europäischen Hafen anlaufen dürfen. »Die Schiffe müssen entsprechend ihres Zweckes ausgerüstet sein«, heißt es. »Entsprechende Bedenken der Anrainerstaaten müssen daher ernst genommen und geprüft werden.«

Rettungskräfte und Schiffbrüchige an Bord der »Alan Kurdi«: 739 Tote

Rettungskräfte und Schiffbrüchige an Bord der »Alan Kurdi«: 739 Tote

Foto: CEDRIC FETTOUCHE/ AFP

Seehofer treibt allerdings offensichtlich nicht die Sorge vor überfüllten Abwassertanks um. Die Seenotretter würden die Beziehungen der Bundesregierung zu Partnern an den europäischen Außengrenzen belasten, schrieb er in dem Brief. Der Streit habe Auswirkungen auf die geplante Reform der europäischen Migrationspolitik, über die seit Monaten in Brüssel gestritten wird. Die italienischen Behörden hätten »unmissverständlich« zu verstehen gegeben, dass die Unregelmäßigkeiten auch Maßnahmen des deutschen Flaggenstaates erforderten. Nun sei »schnelles Handeln der Bundesregierung gefordert«.

Den Brief schließt Seehofer mit einem klaren Auftrag an Scheuer: Die Rechtspflicht zur Seenotrettung werde von der Bundesregierung zwar nicht infrage gestellt. Trotzdem soll er Kontakt zu den betreffenden Behörden aufnehmen, um deren »sicherlich nicht unbegründete Bedenken hinsichtlich der technischen Tauglichkeit des infrage stehenden Schiffes zu erörtern und anschließend zu handeln«.

Scheuer bietet Seehofer die Stirn

Im Frühjahr hatte Scheuer die Schiffssicherheitsverordnung verschärft. Die Reform wurde inzwischen von einem Gericht für rechtswidrig erklärt. Damals glaubten vor allem Linke und Grüne, dass Horst Seehofer das veranlasst  haben könnte. Zumindest im Fall der »Alan Kurdi« bietet Scheuer dem Innenminister die Stirn. Aus Sicht des Verkehrsministeriums verfüge das Schiff über die erforderlichen Zeugnisse, teilte eine Sprecherin mit.

Schon in seiner schriftlichen Antwort hatte Scheuer Seehofer zurechtgewiesen. »Lieber Horst«, schrieb Scheuer, die Seenotrettung habe nach internationalem Recht im Zweifel Vorrang vor sicherheits- und umweltrechtlichen Anforderungen.

Im Übrigen, schrieb Scheuer, verfügten auch die Schiffe der Bundeswehr, die im Mittelmeer bisweilen Flüchtlinge retteten, nicht über zusätzliche Abwassertanks.