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Hinter den Kulissen von “Oeconomia”

Ein Interview mit Carmen Losmann


Carmen Losmann, eine Filmregesseurin und Drehbuchautorin, stellt sich den Fragen der Blogredaktion über ihren letzten Dokumentarfilm “Oeconomia”. Der Film entstand in Koproduktion mit dem ZDF und 3Sat und erschien 2020 in den deutschen Kinos. Bekannt wurde Carmen Losmann durch den Dokumentarfilm “Work Hard Play Hard” (2011), der sich mit den Wirkungen des modernen Human Resource Managements auseinandersetzt. In dem Dokumentarfilm „Oeconomia“ beschäftigt sich Carmen Losmann mit der monetären Seite kapitalistischer Wirtschaft: mit Geldflüssen und der Funktionsweise von Banken. Dabei bringt sie Phänomene wie Wirtschaftsleistung, steigende Verschuldung und Vermögenskonzentration auf eine spannende Art zusammen.


In diesem Interview lässt Carmen Losmann die Leser:innen daran teilhaben, wie es ist, die gängigen Narrative der Ökonomie zu hinterfragen und spricht über Erwartungen, Enttäuschungen und die Motivation hinter dem Projekt, aber auch über das Spannungsfeld, in dem sich das Medium Dokumentarfilm bewegt. Lest selbst.


Ein Teil des DVD-Covers des Films – © Neue Visionen Filmverleih

Der Dokumentarfilm kann noch bis zum 08.11. in der 3Sat Mediathek gesehen werden.



Liebe Carmen, schön, dass du Zeit für uns finden konntest. 2020 feierte dein zweiter Dokumentarfilm “Oeconomia” seine Weltpremiere in der Sektion Forum auf der Berlinale. Magst du mal von deinen Dreh- und Recherchearbeiten berichten, in denen du in einem so etablierten Feld wie der Ökonomie die gängigen Narrative über Geld und unser Wirtschaftssystem in der breiten Öffentlichkeit auf den Kopf stellst? Was war deine Motivation?


Mir war gar nicht so klar, als ich angefangen habe, dass ich die gängigen ökonomischen Narrative in Frage stelle. Ich war erstmal interessiert daran, die herrschenden ökonomischen Phänomene unserer Gegenwart zu verstehen. Ausgehend von der Finanzkrise 2008 und meinem Versuch zu ergründen, was da eigentlich passiert ist, sind mir zu der Zeit immer wieder Ökonom:innen begegnet, die mir gegenüber klar geäußert haben, dass sie die Krisenursachen selbst nicht begreifen konnten, oder bei denen ich im Gespräch gemerkt habe, dass sie die Ursachen selbst nicht verstehen. Das hat mich natürlich neugierig gemacht. Wieso gab es eine Kluft zwischen dem was tatsächlich geschah - ein vom Kollaps bedrohtes Finanzsystem, in dem globale Verschuldungsketten drohten zusammenzubrechen - und einem Heer an studierten Wirtschaftswissenschaftler:innen, die diese Krise weder hatte kommen sehen noch erklären konnte. Außerdem beschäftigte mich nach Abschluss meines ersten langen Dokumentarfilms "Work Hard Play Hard" die Frage, warum Unternehmen Profite machen müssen, um zu überleben. In diesem meinem ersten Film ging es zwar nur um das "Human Resource Management", schlussendlich sollte aber der Zweck aller Personalmaßnahmen dem Erwirtschaften von Profiten dienen und so kam bei mir die grundsätzliche Frage auf: Warum ist das eigentlich notwendig?



Wie ging es dann weiter mit deinen Recherchen?


Das war quasi der Ausgangspunkt für meine Recherche. Zunächst hatte ich 2012 ein Recherchestipendium für diese Filmidee bekommen, die damals noch den Arbeitstitel "Hypo Real" trug. Mit dem Gerd-Ruge-Stipendium konnte mich zwei/ drei Jahre in die Materie reinbegeben. Wie ich dabei genau vorgegangen bin, kann ich gar nicht mehr hundertprozentig nachzeichnen. Wenn ich jetzt einen Blick in meine Recherche-Ordner-Struktur werfe, erinnere ich mich, wie ich mich peu à peu und querbeet durch die ökonomische und geldtheoretische Fachliteratur gelesen habe. Dabei waren viele unterschiedliche, aber meist mit der herrschenden Lehre kritische Stimmen. Ich habe beispielsweise sehr von den Vortragsreihen der Pluralen Ökonomik profitiert, bei denen ich u.a. auf Leute wie Mathias Binswanger, Silja Graupe oder Helge Peukert aufmerksam wurde. Außerdem habe ich natürlich Bücher gelesen, unter anderem von Aaron Sahr ("Keystroke-Kapitalismus"), Ann Petifor ("Die Produktion des Geldes"), Samirah Kenawi ("Falschgeld"), David Graeber ("5000 Jahre Schulden"), Norbert Häring ("Markt und Macht"), Fabian Scheidler ("Das Ende der Megamaschine"), Charles Eisenstein ("Ökonomie der Verbundenheit"), Detlef Hartmann („Krisen – Kämpfe – Kriege: Alan Greenspans ‚Tsunami‘“) und einige andere mehr. Auch weitere Vorträge und Veröffentlichungen, beispielsweise von Bernard Lietaer, Margrit Kennedy, Immanuel Wallerstein, Dirk Ehnts, Ulrike Hermann, bis hin zu Publikationen der Deutschen Bundesbank ("Geld und Geldpolitik") oder auch der Bank of England, waren für mich wichtige Quellen. Und auch Ausarbeitungen von weniger exponierten Leuten fand ich spannend, beispielsweise hat der promovierte Physiker Dag Schulze den interessanten Artikel "Mehrverbrauch durch Effizienztechnolgien" zur Frage verfasst, warum sog. grüne Technologien (mit sparsameren Energieverbrauch) unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen nicht dazu führen können/ dürfen, dass tatsächlich weniger verbraucht wird und mir die sog. Rebound- und Backfire-Effekte in einem systemischen Zusammenhang erläutert. Wie bist du bei deinen Recherchen und Vorbereitungen genau vorgegangen?


Insgesamt habe ich versucht mir so einen Überblick über die Thematik zu verschaffen. Schlussendlich fußte auf diesem Potpourri an erarbeitetem Hintergrundwissen die Arbeit an dem Film, indem ich versuchte, mich der Frage zu nähern, woraus denn eigentlich die Triebfedern für Wirtschaftswachstum, Verschuldung und Vermögenskonzentration bestehen. Den Dokumentarfilm selbst wollte ich an den Orten und mit den Menschen drehen, die in ihrem Arbeitsalltag mit Gelderzeugung, Vermögensverwaltung, Gewinnerwirtschaftung und Schuldenmanagement beschäftigt sind und sich deshalb an vorderster Front damit auskennen müssen, so meine Überlegung. Dieser erzählerische Versuch - die Zusammenhänge des kapitalistischen Geld- und Wirtschaftssystems über dessen Akteure begreifbar zu machen - scheiterte aber. Zum einen hatte ich Schwierigkeiten, an Drehgenehmigungen zu kommen, was sehr zeitaufwändig war. Zum anderen und noch entscheidender: In den Interviews, die ich drehen konnte, bekam ich von den jeweiligen Protagonisten keine zufriedenstellenden Antworten. Zu stark schienen mir meine Interviewpartner der Wirtschaftswelt eingefasst in einen ideologischen Frame, innerhalb dessen meine Fragen weder Platz hatten noch verstanden wurden. Mittlerweile begreife ich diese ausweichenden Antwortbewegungen als Symptom der Neoklassik als hegemoniale ökonomische Lehre, die zwar zur Durchsetzung des Neoliberalismus brauchbar ist, aber nicht zum Verstehen der kapitalistischen Ökonomie mitsamt ihrem zentralen Ziel der Profitproduktion. Stattdessen wird offenbar das Modell einer Marktwirtschaft vermittelt, in dem prinzipielle Krisenfreiheit herrscht und die Rolle des Geldes schlichtweg ausgeblendet wird. Mit einem solchen wirtschaftswissenschaftlichen Wissen lassen sich die realen dysfunktionalen Zusammenhänge, die immer wieder in Krisen führen, freilich nicht begreifen und dementsprechend war ich über die inhaltlichen Resultate meiner Interviews ziemlich ernüchtert.


Wie bist Du in Deiner Erzählform mit dieser Ernüchterung umgegangen? Infolgedessen wurde mir im Verlauf der Arbeit an diesem Film zunehmend klarer, dass ich andere erzählerische Wege finden musste, um die strukturellen Zusammenhänge von Wachstum und Verschuldung angemessen zu ergründen. Meine damalige Rechercheassistentin vermittelte mir den Kontakt zu Samirah Kenawi, die ein Monopoly-Spiel überarbeitet hatte, welches versucht, die ökonomischen Zusammenhänge realitätsnäher abzubilden. Ich besuchte sie in Frankfurt am Main und sie führte mir das Spiel im Kreis ihrer damaligen Arbeitsgruppe vor. Dabei gerieten die Spieler:innen immer wieder in lebhafte, interessante Diskussionen. Diese Spiele-Situation nahm ich als spannende Szenerie wahr, die sich möglicherweise in den Bereich des Filmischen übersetzen ließ und mehr versprach als ein weiteres Erklär-Interview. Und so inszenierten wir die Situation dieses überarbeiteten Monopoly-Spiels im öffentlichen Raum einer Fußgängerzone mit einem Kreis an Menschen, die sich der Analyse von kapitalistischer Ökonomie und Geldproduktion verschrieben hatten und miteinander die Spielbedingungen und -auswirkungen erörterten. Diese Szenen des Brettspiels in der Fußgängerzone nehmen in der Montage des Films einen roten Faden ein, und gleichzeitig agieren sie wie ein Chor des griechischen antiken Theaters, der dem Publikum gegenüber ausdrückt, was die Hauptcharaktere des Stücks, in dem Fall meine Interviewpartner, nicht zu sagen vermochten.



Darüber hinaus drängte sich die ästhetisch-dramaturgische Entscheidung, mich als regieführende Figur zu Beginn des Films zu etablieren und in Form von Recherche-Telefonaten als verbindenden Handlauf fortzuführen, sogar erst während des Montageprozesses auf. Dieses neu entworfene Stilmittel der Telefonate diente mir als künstlerisches Containerformat, mit dem ich sowohl nicht zur Veröffentlichung gedachte Gespräche genügend verfremden, als auch einzelne Recherchefragmente angemessen verdichten konnte, um den Film zu einem schlüssigen Ganzen zu verweben. Ausschlaggebend für diese erklärenden Erzählebenen, zu denen ich auch den Einsatz des grafischen Desktop-Bildschirms zähle, war für mich ein Erlebnis, das ich mit einem Testpublikum von Studierenden hatte: Bei einer Filmklasse an der HFBK in Hamburg zeigte ich einen (in meinen Augen weit gediehenen) Rohschnitt und bekam als Feedback die Frage zu hören: "Ist das ein Film, wo man nichts verstehen soll?". Danach rief ich völlig frustriert meinen Cutter an und sagte ihm, dass wir nochmal von vorne anfangen können. Zu diesem Zeitpunkt stieg glücklicherweise Christiane Büchner als unsere dramaturgische Beratung mit ins Boot, die wirklich ideal war: Sie repräsentierte ein waches, interessiertes Publikum und war dennoch völlig ahnungslos von der Materie, die ihr zudem völlig kontraintuitiv vorkam: Unser Geld entsteht als Schulden, hä? Dadurch hatten wir im Montageprozess mit ihr einen guten Spiegel, an welcher Stelle es noch mehr Erklärungsschleifen brauchte und haben versucht, den Film dementsprechend zu bauen. Mit welchen Widerständen hattest du während des Projektes zu kämpfen?


Zunächst ist ja schon meine Fragestellung, nämlich worin besteht der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Verschuldung und Vermögenskonzentration, eine, die sich nicht unbedingt für das dokumentarische Arbeiten anbietet. Einfach weil die Architektur unserer Geld- und Wirtschaftsordnung sich nicht als leicht erkennbare Bilder übersetzen und damit filmen lassen. Das war und ist das erste Problem. Ein zweites Problem, dem ich begegnete, war die Schwierigkeit, Drehgenehmigungen zu bekommen, selbst für Dinge, die „sichtbar“ werden, wie z.B. die Kreditvergabe bei einer Geschäftsbank. Die Unwilligkeit, die Türen für ein Kamerateam zu öffnen, hat sicher wiederum mit unterschiedlichen Faktoren zu tun: In Unternehmen herrscht einfach Zeit- und Gelddruck, da macht es ökonomisch nicht unbedingt Sinn, sich mit den Anfragen von irgendwelchen Dokumentarfilmer:innen herumzuschlagen. Außerdem kommt der heikle Punkt von Betriebsinterna zum Tragen, die nicht unbedingt für die Öffentlichkeit gedacht sind. Noch dazu kam ich ja nicht mit einem kurzen, knackigen journalistischen Format um die Ecke, sondern mit einer Doku, die sich um gesamtwirtschaftliche, grundsätzliche Fragen dreht und auch nicht so klar durchgeskriptet war. Und mein vorhergehender Dokumentarfilm „Work Hard Play Hard“ war sicherlich auch nicht unbedingt ein Türöffner.


Was hat dich da besonders geärgert?


Ein - zwei Drehtage wurden mir erst sehr spät abgesagt, nachdem schon viel Vorbereitung reingeflossen war, das war sicher am ärgerlichsten und gleichzeitig am unverständlichsten für uns als Team. Insgesamt zog sich durch diese Suche nach möglichen Drehorten und Interviewpartnern das Filmprojekt um Jahre in die Länge, obendrein wurde diese Suche und das Verhandeln mit PR-Abteilungen zu einem wesentlichen Bestandteil der Produktionsbedingungen dieses Films, so dass ich mich während der Fertigstellungsphase entschieden habe, diese Schwierigkeiten auch im Film zu thematisieren. Aber - und das möchte ich hiermit ausdrücklich unterstreichen - ich bin nicht nur vor verschlossenen Türen gestanden, sonst gäbe es diesen Film in der Form auch nicht. Ich habe jedenfalls eine große Wertschätzung für die Protagonisten, die sich für ein Interview Zeit genommen haben, auch wenn meine Fragen ungewohnt oder naiv anmuteten. Wie diese Offenheit von manchen zu erklären ist, kann ich natürlich nur raten: ich vermute ein positives Verhältnis zur Öffentlichkeit, auch wenn sie kritische oder unliebsame Nachfragen stellt - eine positive Grundhaltung zu einer demokratischen, meinungspluralen Debattenkultur. Aber es ist in gewisser Weise ein ungerechtes Missverhältnis im Film oder vielleicht im dokumentarischen Arbeiten an sich, dass diejenigen, die sich für einen kritischen Diskurs öffnen, zu sehen sind, auch in ihren Momenten der Sprachlosigkeit und diejenigen, die „Nein“ sagen, bleiben ungesehen und sind nicht weiter adressierbar. Was waren die überraschenden und enttäuschenden Momente während der Filmproduktion?


Am meisten enttäuscht hat mich die Tatsache, dass ich trotz mehr als zwei Jahre andauernder Bemühungen keine Drehgenehmigung bei der Deutschen Finanzagentur GmbH bekommen habe - die Institution, die für das gesamte Schuldenmanagement der Bundesrepublik Deutschland und der Neuemission von Staatsanleihen zuständig ist. Bestimmend dafür war letztendlich die Pressestelle des Finanzministeriums, die das Projekt am Ende eines langen Prozesses abgelehnt hat, und obwohl die Finanzagentur mir die Begründung des ihnen weisungsgebenden Finanzministeriums mitgeteilt hat - nämlich, dass sie keinen Sinn darin sehen, bei einer möglicherweise kritischen Berichterstattung mitzuwirken - hat mir der zuständige Mitarbeiter der Pressestelle in einem direkten Telefonat keinerlei Auskunft über diesen Vorgang gegeben. Das fand ich schon insgesamt sehr enttäuschend und leider auch entlarvend für das Selbstverständnis eines Ministeriums, das einer demokratisch legitimierten Regierung angehört. Zwar werden von unserer Regierung die Werte Pressefreiheit, Offenheit, Meinungsvielfalt und Diversität ganz groß auf die Fahnen geschrieben, gerne auch in Abgrenzung zu autoritären Regimes, doch die konkrete Umsetzung dieser Werte blieb in diesem Fall zumindest aus.


Am meisten überrascht hat mich, dass eine gesellschaftlich unabdingbare Infrastruktur wie die Produktion des Zahlungsmittels zu einem großen Teil in Privathänden liegt und - zumindest noch in der Zeit meiner Recherche - was kaum jemanden interessiert hat. Wenn eine andere elementare Infrastruktur wie beispielsweise die Wasserversorgung privatisiert werden soll, erlebe ich dagegen eine große Empörung, Leute gehen dagegen auf die Straße, und zwar völlig zurecht. Und mich hat wirklich überrascht, wie wenig ausgeprägt dagegen unser gesellschaftliches Bewusstsein in Sachen Geldordnung war und dass es keinerlei öffentliche Debatte gab - weder über die Problematik, die sich aus der Konstruktion eines privatisierten Geldsystems ergibt, noch über die volkswirtschaftlichen Folgen davon und schon gar nicht über die psycho-sozialen Auswirkungen auf eine Gesellschaft. Das hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise etwas geändert. Außerdem hat mich überrascht, dass meine Fragen nach dem strukturellen Zusammenhang zwischen Verschuldung und Wirtschaftswachstum von den interviewten Fachleuten nicht verstanden wurden. Es schien immer noch ein Verständnis von Geld vorzuherrschen, bei dem Geld erwirtschaftet wird und sich als neutrales Tauschmittel verhält. Die Produktionsebene von Geld als Bilanzverlängerung, dass Geld quasi “erschuldet” werden muss, sprich: dass sich wer verschulden muss, damit das BIP als die Gesamtsumme der verkauften Güter und Dienstleistungen wachsen kann - diesen Zusammenhang und die daraus hervorgehenden Problemstellungen schien mir unter den Vermögensverwaltern, Chefvolkswirten und Finanzvorständen, mit denen ich Interviews geführt hatte, nicht wirklich beleuchtet worden zu sein. Und das fand ich doch überraschend. Hat es eine Rolle gespielt, dass du eine Frau bist?


Das kann ich nicht wirklich beantworten, weil ich ja keinen Vergleich habe. Schließlich habe ich ja kein Interview als Nicht-Frau geführt und könnte einschätzen, inwiefern sich das unterschieden hat. Ich bewege mich also in der Beantwortung dieser Frage im Bereich des Spekulativen. Nichtsdestoweniger fällt das Geschlechterverhältnis zwischen meinen Interviewpartnern - ausschließlich Männern - und mir als Interviewerin schon ins Auge und ich finde diese Frage durchaus berechtigt. Möglicherweise hat meine Rolle als Frau dazu geführt, dass die Interviewten mich einerseits weniger ernst genommen haben, dadurch vielleicht auch entspannter waren und infolgedessen auch Redepausen, Rücksprachen mit ihren Pressereferenten und nachdenkliches Innehalten bei manchen meiner Nachfragen zugelassen haben. Außerdem kann ich sagen, dass meine Interviewpartner sehr höflich, professionell und freundlich mit mir umgegangen sind. Vielleicht wäre das mit einem männlichen Interviewer auch anders gewesen, unter Männern entsteht ja eher eine Konkurrenz darum, wer jetzt recht hat, und dann kanns auch schonmal etwas ruppiger zugehen.

Wie würdest du die Herausforderung und das Spannungsfeld beschreiben, Vertrauen zu erwecken, um Informationen zu erlangen, aber dennoch kritische Fragen zu formulieren? Und wie haben sich daraus deine Fragen ergeben?


Was den ersten Teil der Frage angeht, versuche ich erstmal professionell zu arbeiten. Ich versuche mich in einem freundlichen Umgang mit den Menschen, mit denen ich während eines Drehtags zu tun habe. Übrigens mit allen Mitarbeiter:innen, nicht nur in Bezug auf die hohen Alphatieren vor der Kamera. Ich bin also lediglich offen und freundlich und versuche mir nicht aktiv oder gar manipulativ das Vertrauen von Menschen zu 'erschleichen'. Stattdessen vertrete ich eine Haltung von: kritische (Nach-)Fragen gehören dazu - nicht nur in Dokumentarfilminterviews, sondern überhaupt im gesellschaftlichen Kontext. Dementsprechend ist es für mich kein Widerspruch zwischen freundlichem Umgang und einer gesellschaftlichen Debatte, die kritische Fragen und widerstreitende Positionen willkommen heißt.


Dennoch bemerke ich das Spannungsfeld, das mit deiner Frage angerissen wird, und deswegen hadere ich immer wieder mit dem Dokumentarfilm als Ausdrucksmedium. Um strukturellen Zusammenhängen im Rahmen eines Dokumentarfilms auf den Grund zu gehen, brauche ich Menschen, die bereit sind, bei diesem Unterfangen mitzumachen, ihr Gesicht zu zeigen, auch ihre Unsicherheiten und Sprachlosigkeiten und die am Ende nach der Fertigstellung des Films nicht unbedingt glücklich mit dem Ergebnis sind, bzw. mit der Art und Weise, wie sie darin zu sehen sind. Und das kann ich gut verstehen! Der Dokumentarfilm ist für die Mitwirkenden eine komplett andere Nummer als der Spielfilm, in dem die Schauspielenden ihre Rolle danach wieder ablegen und nichts weiter damit zu tun haben. Was deine Frage angeht, wie ich zu den Fragen gekommen bin: Die Interviewfragen habe ich mir peu à peu während der Recherche und auch noch während der Drehphase erarbeitet. Ich hatte ja eine Ausgangsfrage nach den strukturellen Zusammenhängen von Wirtschaftswachstum, Verschuldung und Vermögenskonzentration und habe sie je nach Episode heruntergebrochen auf das Erkenntnisinteresse, das ich vor Ort jeweils hatte. Beispielsweise in der Schweizer Bank drehten sich meine Fragen ganz klar darum, wie die Gelderzeugung bilanztechnisch und infrastrukturell funktioniert und durchgeführt wird. Auch dort habe ich nach den Auswirkungen dieser Konstruktion gefragt, nach den sich möglicherweise selbstbeschleunigenden Effekten und danach, was innerhalb dieser ökonomischen Architektur die Voraussetzungen für Eigenkapitalbildung, Profitemachen und Wirtschaftswachstum ist. Aber damit hatte sich der Geschäftsführer der Bank noch nie beschäftigt und konnte darüber wenig Auskunft geben. Nachdem ich ein paar Interviews geführt hatte, und je mehr mir die ökonomischen und finanzsystematischen Zusammenhänge in ihrer Widersprüchlichkeit bewusst wurden, desto besser konnte ich nachfragen. Und ganz grundsätzlich folgt der Film ja einer Frage von Marx, die er im zweiten Band des Kapitals, das unvollendet bliebt, gestellt hatte: "Wie kann nun die ganze Kapitalistenklasse beständig 600 Pfd. Sterling aus der Zirkulation herausziehen, wenn sie beständig nur 500 Pfd. Sterling hineinwirft?“ Die Antwort auf diese Frage konnte Marx übrigens selbst nicht so recht finden, wie Rosa Luxemburg bemerkt hat. Auf dieses Marx-Zitat und die Arbeiten von Rosa Luxemburg in Bezug darauf hatte mich meine Protagonistin Samirah Kenawi hingewiesen.


Wieso braucht es mehr Dokumentarfilme und nicht nur wissenschaftliche Literatur?


Die wissenschaftliche Literatur hat natürlich den Vorteil, dass sie abstrakte, nicht sichtbare Strukturen und Zusammenhänge problemlos beschreiben und damit aufzeigen kann. In der Arbeit an einem Dokumentarfilm braucht es immer etwas zu sehen und zu hören. Ich muss mich dabei mit dem herumschlagen, was an den vielleicht in der Welt verborgenen Strukturen sichtbar nach außen tritt. Das ist einerseits schwierig, weil gerade komplexe Zusammenhänge weniger präzise und anhand von Einzelbeispielen abgehandelt werden müssen. Andererseits wird gerade durch den Raum des Sichtbaren etwas hinzugefügt, was der wissenschaftlichen Literatur fehlt: All dies, was wir mit Worten nicht genau erfassen können, was eher den Raum des Atmosphärischen, des Non-Verbalen betrifft - in diesen Raum kann mit dokumentarischen Bildern und Tönen besser hineingeleuchtet werden. Über die Mittel des Films kann ich Themen nicht nur über die kognitive Verstandesebene vermitteln - wie in wissenschaftlichen Texten meistens der Fall - sondern kann auch sensitivere, körper-emotionale Ebenen des Begreifens ansprechen. Beispielsweise erzähle ich mit einer kurzen Bildfolge, in der neben groß dastehenden Männern in Businessanzügen zwei Frauen zu sehen sind, die in ähnlichen Gebäuden putzen bzw. die Getränke für das nächste Meeting herrichten, ziemlich viel über die vermachten Geschlechterverhältnisse unserer Arbeitswelt - ohne ein Wort darüber verloren zu haben. Diese Qualität des Filmischen, die quasi die Phänomene unserer Welt ins Verhältnis einer Bildfolge zu setzen weiß, schätze ich sehr. Vor allem, weil sie mich trotz einer gewissen Sprachlosigkeit, die für mich Ausdruck davon ist, wie sehr unsere Denkräume mittels epistemologischer Gewalt (diesen Begriff habe ich von Silja Graupe) zugerichtet wurden, etwas von meinem Unbehagen an der Kultur, die ich als kapitalistische Moderne beschreiben würde, mitteilen lassen. Was hat sich durch den Dokumentarfilm verändert? Oder was sollte sich dadurch verändern?


Ob Dokumentarfilme wirklich etwas verändern können, vermag ich nicht einzuschätzen. Mein Wunsch jedenfalls ist es, eine breitere gesellschaftliche Diskussion anzustoßen, um die Frage nach der Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie zu stellen. Der Film hat mir zumindest klargemacht, dass wir es mit einem größeren, strukturellen Problem zu tun haben: Wenn es keine hinreichend Theoriebildung über die Mechanismen der Selbstvermehrung des Kapitals gibt - wie sollen wir als Gesellschaft über den Sinn dieser Selbstvermehrung auch nur nachdenken zu können? Ich freue mich, dass die Cusanus Hochschule diesbezüglich neue Wege geht.

Was ist dein nächstes Projekt? Weiß ich noch nicht - vielleicht ein Film über das Sterben. Oder einen Film über Schulden. Oder gar keiner.





Das Interview führte Franziska Heimrich. Es erfolgte in schriftlicher Form.

 

Zum Hintergrund:

Carmen Losmann war am 08.06.2022 zu Gast bei einem “CampusTalk” an der Cusanus Hochschule. Als Gast stellte sie sich den Fragen der Hochschulöffentlichkeit zu ihrem Projekt unter Moderation von Hannah Vogel und Walter Ötsch.



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