Gas steigt aus einem Leck in der Nord-Stream-Pipeline auf.
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Explosionen an Nord Stream Was ist dran am Hersh-Bericht über US-Sabotage?

Stand: 09.02.2023 17:11 Uhr

Der US-Journalist Hersh schreibt, die USA steckten hinter der Explosionen an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2. Er beruft sich dabei auf eine anonyme Quelle. Die US-Regierung dementiert, der Kreml fühlt sich bestätigt. Doch Hershs Version wirft viele Fragen auf.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"How America Took Out The Nord Stream Pipeline" - "Wie die USA die Nord Stream Pipeline ausschalteten", lautet die Überschrift des Berichts, der ein politisch hochbrisantes Thema zurück auf die Tagesordnung brachte - die Explosionen in der Ostsee, die drei der vier Pipelineröhren von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 beschädigte.

Während die offiziellen Ermittlungen zu dem Vorfall im September 2022 noch laufen, will der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh wissen, wer hinter der Explosion steckt: die USA. Auf seinem Blog veröffentlichte Hersh einen Artikel dazu, der detailliert auflistet, wie die USA vorgegangen sein sollen. Hersh beruft sich dabei auf eine einzige anonyme Quelle "mit direkter Kenntnis der operativen Planung".

Demnach haben US-Marinetaucher unter dem Deckmantel der NATO-Übung BALTOPS im Juni vergangenen Jahres in der Ostsee heimlich einen fernzündbaren Sprengstoff an einer der Pipelineröhren angebracht und ihn zwei Monate später ausgelöst. Norwegen sei in die Operation eingeweiht gewesen, da die USA von ihren dortigen Militärbasen aus die geheime Mission durchgeführt hätten.

USA und Norwegen weisen Vorwürfe zurück

Sowohl die USA als auch Norwegen wiesen die Berichte umgehend zurück. "Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung", sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson. Ein Sprecher des Auslandsgeheimdienstes CIA sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Diese Behauptung ist völlig und vollkommen falsch."

Der Kreml wiederum sieht sich durch den Bericht in seiner Sichtweise bestätigt. "Sie wissen, dass es auch von unserer Seite Erklärungen zu Informationen gab, die auf eine Beteiligung der Angelsachsen an der Organisation dieses Sabotageakts hindeuten", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Leider sei Russland nicht gehört worden, doch die neuen Informationen sollten als Grundlage für eine internationale Aufklärung dienen. Der Kreml hatte noch vor wenigen Monaten der britischen Marine vorgeworfen, hinter der Explosion zu stecken. Die russische Führung wiederum wird vom Westen verdächtigt, für die Explosion verantwortlich zu sein.

Die AfD forderte angesichts des Berichts, offene Fragen rund um die Explosionen an den Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee von einem Untersuchungsausschuss im Bundestag klären zu lassen. Es gehe um die Frage, ob "die Führungsmacht der NATO in europäischen Gewässern einen Anschlag auf lebenswichtige kritische Infrastruktur unseres Landes verübt" habe, sagte AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla. Sollte dies so sein, könnten US-Truppen nicht mehr in Deutschland bleiben: "Der Abzug aller US-Truppen wäre die Konsequenz." Der Bundestag habe "ein Recht zu erfahren, welche Kenntnisse die Bundesregierung hat".

Viele Fragen bleiben offen

Nach Ansicht von Julian Pawlak von der Universität der Bundeswehr in Hamburg sind die Fakten der Berichts von Hersh selektiv ausgewählt, damit die Geschichte keine Widersprüche enthalte. "Die Minenkriegsführung wird bereits seit mehreren Jahren im Rahmen des Manövers durchgeführt, insbesondere nach Beginn des russischen Angriffs 2014 auf die Ukraine." Die Andeutung in dem Artikel, die USA hätten extra daraufhin gewirkt, dass Minentaucher auf deren Initiative hin in die Übung mit aufgenommen worden seien, sei daher irreführend. "Das Legen und Räumen von Minen gehört schon seit Jahren zum Programm."

Während einer gemeinsamen Militärübung einfach eine verdeckte Operation durchzuführen, sei zudem mindestens schwierig. "Es gibt unterschiedliche Abläufe, in denen Schiffe verschiedene Übungen durchführen", sagt Pawlak. "Es gibt Kommandoschiffe, die unterwegs sind und das Ganze auch strukturieren. Es ist schwer vorstellbar, dass sich da ein Schiff einfach entfernt, seinen Empfänger ausschaltet und dann versucht, zwischen einer Vielzahl von anderen NATO-Einheiten so eine verdeckte Operation durchzuführen."

Auch dass die US-Navy - wie in dem Bericht behauptet - es überhaupt in Erwägung gezogen habe, die Pipeline mit ihren U-Booten zu zerstören, sei abwegig. "Die US-Navy verfügt nur noch über nuklear betriebene, große U-Boote. Da ergibt es überhaupt keinen Sinn, mit solchen U-Booten zu versuchen, unbemerkt in diese schmale Ecke der Ostsee zu fahren." Es sei daher unglaubwürdig, dass hochrangige Militärs dies überhaupt als Möglichkeit angesehen hätten.

"NATO-Zusammenhalt so eng wie selten"

Auch der Zeitpunkt der Explosion spricht aus Sicht von Pawlak eher gegen die These von Hersh. Schließlich sei im September 2022 bereits kaum noch Gas durch die Pipelines geflossen, die NATO habe so eng zusammengestanden wie selten zuvor. "Und dann stelle ich mich mir die Frage, wie dann zwei Bündnismitglieder in Form der USA und Norwegens das Bündnis mit so einer Aktion aufs Spiel setzen würden. Ein Angriff auf Deutschland, einen anderen Bündnispartner, würde ja den ganzen Zusammenhalt torpedieren."

Dass nach der Aktion eine Pipelineröhre unbeschädigt geblieben ist und somit die Gaszufuhr nach Deutschland zumindest theoretisch noch möglich gewesen sei, spreche auch eher gegen eine Täterschaft der USA. "Das Ganze weist mehrere Ungereimtheiten auf", sagt Pawlak.

Experten kritisieren zudem, dass es lediglich eine einzige anonyme Quelle gibt, auf der der Bericht beruht. Gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS sagte Hersh, dass es sich dabei um jemanden handele, der "ziemlich viel darüber zu wissen scheint, was vor sich ging". Den Namen könne er "offensichtlich" nicht verraten.

Hersh nicht unumstritten

Der bekannte Investigativ-Journalist Hersh war vor Jahrzehnten durch die Aufdeckung des My-Lai-Massakers in Vietnam durch US-Truppen bekannt geworden. Zuletzt war der 85-Jährige jedoch mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen. So behauptete er unter anderem mehrfach, dass die Giftgasangriffe in Syrien inszeniert worden seien. Kritiker werfen ihm vor, Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Auch in seinem neusten Bericht verbreitet er das prorussische Narrativ, die aggressive Außenpolitik der Biden-Regierung sei Schuld an der Eskalation zwischen Russland und der NATO.

Auch Generalbundesanwalt ermittelt

Explosionen hatten Ende September 2022 in der Nähe der dänischen Ostsee-Insel Bornholm vier Lecks in die beiden Pipelines Nord Stream 1 und 2 gerissen, die von Russland nach Deutschland führen. Die Gaslecks waren in internationalen Gewässern aufgetreten, jeweils zwei in den Ausschließlichen Wirtschaftszonen Dänemarks und Schwedens. Russland hatte Nord Stream 1 zum Zeitpunkt der Explosionen wegen angeblicher technischer Probleme abgeschaltet. Die nach Angaben aus dem Kreml trotz Beschädigung weiter einsatzfähige Leitung Nord Stream 2 hat bis heute keine Zulassung von deutschen Behörden erhalten. Die Bundesregierung setzte das Zertifizierungsverfahren im Februar 2022 aus.

Schwedens Staatsanwaltschaft war im November zu dem Schluss gekommen, die Lecks an den Pipelines seien auf schwere Sabotage zurückzuführen. Damit bestätigte sie den schon länger im Raum stehenden Verdacht, dass die Explosionen vorsätzlich mit Sprengladungen herbeigeführt wurden. Tatverdächtige wurden bislang noch nicht benannt.

Auch deutsche Ermittler gehen den Hintergründen nach. Mithilfe zweier Forschungsschiffe seien Wasser- und Bodenproben sowie Reste der Pipelines entnommen worden, der Tatort sei auch umfassend dokumentiert worden, sagte Generalbundesanwalt Peter Frank vor wenigen Tagen der "Welt am Sonntag". "Das alles werten wir derzeit kriminaltechnisch aus." Die Ermittlungen dauerten an.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. Februar 2023 um 10:00 Uhr.