In den kommenden Wochen wird in rund 20.000 deutschen Briefkästen Post vom Parlament landen: eine Einladung des Bundestags. Parlamentspräsidentin Bärbel Bas bittet darin in freundlichen Worten die Bürgerinnen und Bürger um Hilfe in – na ja – Speisefragen. "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" lautet das Thema des ersten vom Bundestag organisierten Bürgerrats, dessen Einsetzung am gestrigen Abend mit den Stimmen der Ampel-Koalition und der Linken beschlossen wurde.

Ungewöhnlicher als das Thema ist dabei das Format. Unter denjenigen der 20.000, die die Einladung von Bärbel Bas annehmen, werden 160 Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Alle müssen über 16 Jahre alt sein und ihren Erstwohnsitz in Deutschland haben. Ein bisschen eingegriffen wird in die Auswahl allerdings, denn die Gruppe soll die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter, Wohnort, Geschlecht und Bildungshintergrund widerspiegeln – ein Mini-Deutschland gewissermaßen. Die Vegetarier- und Veganerquote soll natürlich auch stimmen.

Und dann? Wird beraten. An drei Wochenenden in Präsenz und bei sechs digitalen Treffen diskutiert der Bürgerrat über die Fragen, die ihnen der Bundestag stellt: Wo soll der Staat in die Ernährung eingreifen und wo nicht? Was wollen die Konsumenten über Inhaltsstoffe wissen? Soll Ungesundes stärker besteuert werden? Was tun gegen Nahrungsmitttelverschwendung? Im Februar 2024 soll das Gremium dann seine Handlungsempfehlungen an den Bundestag übergeben. Die Ergebnisse des Bürgerrats sind aber nicht bindend. Im Beschluss (PDF) heißt es lapidar: "Zu dem Bericht findet in erster Beratung eine Aussprache statt." Die Abgeordneten reden also darüber.

Mit der gestrigen Entscheidung beginnt gewissermaßen die deutsche Härteprobe für das Demokratie-Instrument Bürgerrat. Seit einigen Jahren wird mit solchen ausgelosten Runden weltweit experimentiert: In Irland hat man auch infolge eines Bürgerrats Schwangerschaftsabbrüche erlaubt, in Deutschland gab es laut Zählung des Vereins Mehr Demokratie mittlerweile mehr als 80, die meisten in Städten und Gemeinden.

Auf Bürgerräte können sich aktuell (fast) alle einigen, die sich um die Demokratie sorgen: Sie versprechen den Bürgerinnen und Bürgern mehr politische Beteiligung und der Politik ein klareres Bild davon, was das Volk politisch will, wenn es sich über ein Thema mehr Gedanken macht als sonst in einer einfachen Umfrage. Andererseits tun die Bürgerräte niemandem weh. Anders als Volksabstimmungen oder andere Formen direkter Demokratie mindern sie nicht die Macht gewählter Politikerinnen und Politiker. Wie populär das Los als Demokratie-Instrument ist, zeigt sich auch daran, dass die Letzte Generation darauf setzt: Die Aktivisten fordern einen Klimagesellschaftsrat.

Diese großen Erwartungen werden sich in den kommenden Monaten am Bürgerrat Ernährung überprüfen lassen. Organisiert wird das Ganze von einer neuen Stabsstelle in der Bundestagsverwaltung mit sechs Mitarbeitern, mehrere Dienstleister, die sich auf solche Beteiligungsprozesse spezialisiert haben, helfen dabei. Die Kosten liegen bei rund einer Million Euro.   

Organisatoren und Abgeordnete freuen sich über die konkrete Vorgabe an den Rat: "Ernährung ist ein echtes Bürgerthema, denn jeder Mensch hat einen persönlichen Bezug dazu. Man braucht nicht erst Experten und Wissenschaftler, um das Thema zu erklären", sagt beispielsweise Stephan Thomae, der in der FDP-Fraktion für das neue Gremium zuständig ist. Je lebensnäher, desto besser also: Darauf hat man diesmal auch deshalb Wert gelegt, weil man bei einem früheren Bürgerrat-Experiment schlechte Erfahrungen gemacht hat.

2021 berieten 160 Bürgerinnen und Bürger über "Deutschlands Rolle in der Welt". Das war zu abstrakt und der Einfluss der Fachleute sehr groß, darüber waren sich im Nachhinein alle einig. Damals hatten sich die Fraktionen noch nicht getraut, den Teilnehmern ein konkreteres Thema zu geben, weil sie nicht wollten, dass diese ihnen in Dinge reinreden, zu denen sie selbst gerade Politik machen. Damit erst gar keine Konkurrenz entsteht zwischen gewählten und gelosten Volksvertretern.