Stellen Sie sich vor, Deutschland würde über eine Reform des Krankenversicherungssystems nachdenken und keiner würde darüber sprechen, ob das Menschen gesünder oder kränker macht. Unvorstellbar? Stimmt. Denn natürlich kann Gesundheitspolitik beeinflussen, wie gut es Bürgerinnen und Bürgern geht.

Anders sieht es aus, wenn es zum Beispiel um Energiepolitik, Migrationspolitik, Sicherheitspolitik oder Außenpolitik geht. Oder sich Menschen die Frage stellen, wie ein politischer Diskurs geführt wird – ruhig und besonnen oder voller Hass und Häme? Wie all diese Bereiche und Fragen auch unsere Gesundheit betreffen, spielt in öffentlichen Diskursen, bei Wahlversprechen und in Parteiprogrammen kaum eine Rolle. Dabei ist es längst spürbar.

Das jüngste Beispiel dafür ist drastisch. Es kommt aus Großbritannien, wo die Briten 2016 mit einer hauchdünnen Mehrheit entschieden haben, aus der EU auszutreten. Eine Studie, die heute im Magazin Journal of Epidemiology and Community Health (Vandoros et al., 2018) erscheint, zeigt, dass nach der Brexit-Abstimmung die Zahl der verschriebenen Antidepressiva deutlich anstieg. Der Brexit, schreiben die Autoren, sei ein "einzigartiges natürliches Experiment, um den Einfluss eines bedeutenden gesellschaftlichen Ereignisses auf die psychische Gesundheit zu untersuchen". Der Grund: Viele Menschen hätten den Brexit nicht erwartet und wachten am Morgen des 24. Juni 2016, einen Tag nach dem Referendum, in einer völlig neuen Realität auf. Anders als bei vielen anderen politischen Entscheidungen gab es beim Brexit also ein eindeutiges Datum, das man als Startpunkt für das Experiment nutzen konnte. Und das macht Analysen dazu viel treffsicherer.

Mehr Antidepressiva, egal ob remain oder leave

Für den Brexit-Effekt untersuchten die Wissenschaftler und Forscherinnen die verschriebenen Tagesdosen von Antidepressiva in Großbritannien zwischen 2011 und 2016. Und tatsächlich: Der Antidepressivaverbrauch stieg nach dem Brexit an. Allerdings stellten die Studienautoren fest, dass die Zahl der Antidepressivaverschreibungen schon in den Vorjahren gestiegen war. Setzte sich also nur ein allgemeiner Trend fort?

Um das auszuschließen, verglichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Zahl der verschriebenen Antidepressiva mit anderen Medikamenten wie Gichtmitteln oder Eisenpräparaten. Und während die von 2011 bis zum Brexit-Votum gemeinsam mit den Antidepressivaverschreibungen zugenommen hatten, sank ihre Zahl nach dem Brexit-Votum wieder – im Gegensatz also zur Zahl der Antidepressiva. Dieser gern genutzte Differenz-von-Differenzen-Ansatz lege nahe, schreiben die Wissenschaftler, dass hier ein direkter Zusammenhang mit dem Brexit-Voting bestehe. Ein interessanter Nebeneffekt der Studie: Menschen in Regionen, in denen mehr als 60 Prozent für den Brexit gestimmt hatten, ging es nicht besser als anderen.

Große Ereignisse hinterlassen Spuren in der Psyche

Nun lässt sich über die Ergebnisse streiten. Einerseits handelt es sich nur um eine Beobachtungsstudie und deren Ergebnisse sollte man stets vorsichtig interpretieren. Und außerdem lässt sich von der Zahl der verschriebenen Antidepressiva eben nur bedingt auf die Stimmung der Britinnen und Briten schließen. Mancher wird deshalb sagen, man solle die Studie als unsystematisches Rauschen in der Verschreibungspraxis britischer Hausärzte und Medizinerinnen abtun.

Aber so einfach ist es eben nicht. Denn die Studie reiht sich in eine Vielzahl von Untersuchungen ein, die Ähnliches zeigen. Große gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ereignisse hinterlassen oft Spuren in der Psyche von Menschen. So zeigten 17 Prozent der US-Amerikanerinnen und Amerikaner zwei Monate nach den Anschlägen des 11. September Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (JAMA: Silver et al., 2002). Außerdem bewiesen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass Menschen, die Angst haben, ihren Job zu verlieren, häufiger depressive Verhaltensweisen zeigen (beispielhaft: Social Science & Medicine: Burgard et al., 2009). Mitunter begehen in Phasen eines Wirtschaftsabschwungs zudem möglicherweise mehr Menschen Suizid (Lancet: Reeves et al., 2012).